Selen – das neue Wundermittel der Hashimoto-Behandlung?
- Dr. Christian Lunow
- 24. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Hashimoto-Thyreoiditis ist die häufigste Autoimmunerkrankung der Schilddrüse. Das Immunsystem greift dabei fälschlicherweise das eigene Schilddrüsengewebe an, was langfristig zu einer Unterfunktion führen kann. Neben der klassischen Therapie mit Schilddrüsenhormonen rückt in den letzten Jahren ein Spurenelement zunehmend in den Fokus: Selen.
Tatsächlich konnten Studien zeigen, dass Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis (und auch Morbus Basedow) häufiger unter Selenmangel leiden als die Normalbevölkerung. Doch was kann die Einnahme von Selen wirklich bei Hashimoto bewirken – und ist es tatsächlich ein „Wundermittel“?

Was ist Selen?
Selen ist ein essenzielles Spurenelement, das der Körper nicht selbst herstellen kann. Es ist natürlicher Bestandteil von Nahrungsmitteln wie Getreide, Gemüse und Nüssen. Wie viel wir aufnehmen, hängt stark vom Selengehalt des Bodens ab.
In Europa beträgt die durchschnittliche Zufuhr rund 40 μg pro Tag – mit einem West-Ost-Gefälle und einer abnehmenden Tendenz in den letzten drei Jahrzehnten.
Selen spielt eine zentrale Rolle in vielen Stoffwechselprozessen, besonders bei:
der Funktion von Antioxidantien (z. B. Glutathionperoxidase),
der Regulation des Immunsystems,
und der Umwandlung von Schilddrüsenhormonen (T4 → T3).
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt für Erwachsene eine tägliche Aufnahme von 60–70 μg. Ein Mangel an Selen kann das Immunsystem schwächen und die Schilddrüsenfunktion beeinträchtigen.
Welche besondere Rolle spielt Selen für die Schilddrüse?
Die Schilddrüse enthält mehr Selen pro Gramm Gewebe als jedes andere Organ und ist Hauptproduktionsort vieler Selenproteine. Als Bestandteil des Enzyms Glutathionperoxidase trägt Selen dazu bei, oxidativen Stress zu reduzieren, der bei der Umwandlung von Jodid zu Jod entsteht.
Es liegt daher nahe, dass eine höhere Selenzufuhr die Entzündung der Schilddrüse dämpfen und die Gewebeschädigung bei Hashimoto-Thyreoiditis verlangsamen könnte.
Wie ist die Studienlage zur Einnahme von Selen bei Hashimoto?
Die Annahme, dass Selen das Entzündungsgeschehen in der Schilddrüse bei Hashimoto-Erkrankten drosselt, wurde in mehreren klinischen Studien untersucht.
Eine der ersten Arbeiten stammte aus Deutschland: Ärzte der Universität München untersuchten 71 Hashimoto-Patienten aus einer selenarmen Region Bayerns. Sie teilten die Teilnehmenden in zwei Gruppen:
Gruppe 1 erhielt über drei Monate täglich 200 μg Selen,
Gruppe 2 erhielt ein Placebo.
Am Ende der Studie war die Konzentration der TPO-Antikörper in der Selen-Gruppe um 36 % gesunken, während sie in der Kontrollgruppe nur um 10 % abgenommen hatte. Bei neun von 36 Teilnehmenden, die mit Selen behandelt wurden, hatte sich der TPO-AK-Spiegel sogar vollständig normalisiert.
Der positive Effekt zeigte sich nicht nur in einer Verringerung der Entzündungsaktivität, sondern auch in einem echoreicheren Ultraschallbild.
Spätere Studien bestätigten diese Ergebnisse teilweise. Eine neuere Meta-Analyse aus der Schweiz, in der insgesamt 35 randomisierte Studien ausgewertet wurden, zeigte etwa:
TSH-Werte: Selen konnte bei Patienten ohne Schilddrüsenhormontherapie (L-Thyroxin) die TSH-Werte leicht senken.
Antikörper (TPO-AK): In fast allen Studien wurde ein deutlicher Rückgang der schilddrüsenspezifischen Antikörper (TPO-Ab) nach Selen-Einnahme beobachtet – sowohl bei Patienten mit als auch ohne Hormontherapie.
Oxidativer Stress: Marker für oxidativen Stress (z. B. Malondialdehyd) gingen signifikant zurück.
Allerdings gibt es auch Arbeiten, die zu anderen Ergebnissen kommen. Fraglich ist insbesondere, ob sich Selen tatsächlich positiv auf das Befinden der Betroffenen auswirkt. So zeigte die große 2024 erschienene CATALYST-Studie („Chronic Autoimmune Thyroiditis Quality of Life Selenium Trial“), dass die biochemischen Effekte der Selensupplementierung nicht automatisch zu einer Verbesserung der Symptome oder der Lebensqualität führen.
Ist es sinnvoll, Selen einzunehmen?
Laut DGE sollten Erwachsene täglich 60–70 μg Selen aufnehmen. Durch eine ausgewogene Ernährung ist dies meist möglich – insbesondere durch Nahrungsmittel wie Nüsse (vor allem Paranüsse), Fisch und Meeresfrüchte (z. B. Thunfisch, Sardinen, Garnelen), Eier, Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte.
Neuere Forschungen zeigen, dass der Mangel des Spurenelements größere gesundheitliche Risiken birgt, als früher angenommen wurde. Wer jedoch routinemäßig hochdosierte Supplemente einnimmt, läuft Gefahr einer Überdosierung. Kurzfristig kann dies Beschwerden wie Übelkeit, Durchfall, metallischen Geschmack oder Müdigkeit verursachen. Dauerhafte Überversorgung mit mehr als 300–400 µg pro Tag kann Nebenwirkungen wie Haarausfall, brüchige Nägel oder sogar Nervenschäden hervorrufen. Sehr hohe Mengen können eine akute, lebensgefährliche Selenvergiftung verursachen.
Deshalb: Eine Supplementierung sollte immer nur nach ärztlicher Rücksprache erfolgen. Ein Bluttest (Serum-Selen) kann klären, ob tatsächlich ein Mangel vorliegt.
Fazit
Selen ist sicherlich kein Wundermittel, kann aber bei Hashimoto einen messbaren positiven Effekt haben – insbesondere auf Antikörperwerte und oxidativen Stress. Von einer Selbstmedikation ohne ärztliche Aufsicht ist jedoch dringend abzuraten, denn im Übermaß kann Selen toxisch wirken.
Ein Nutzen ist vor allem bei Menschen wahrscheinlich, die noch keine Schilddrüsenhormone einnehmen. Als Ergänzung zur Hormontherapie bei Hashimoto-Thyreoiditis kann eine Supplementierung mit 100–300 μg Selen pro Tag sinnvoll sein, insbesondere bei nachgewiesenem Mangel oder wenn Patienten unter alleiniger Hormongabe nicht beschwerdefrei werden.
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